Management der kollektiven Emotionen: Das Desaster der Video-Konferenzen

Kollektive-Emotionen
Hier zum Originalartikel auf focus.de und zu Jochen Peter Breuer als Focus Autor.

Informationsfluss steigern, Reisekosten senken – Videokonferenzen versprechen wahre Wunder. FOCUS-Online-Experte Jochen Peter Breuer weiß, warum solch ein Vorhaben auch gründlich schief gehen kann.

Eine Veränderung der Gewohnheiten oder des Status Quo in einem Unternehmen ist der ideale Nährboden für das Entstehen von „emotionalen Viren“. Mit dieser Metapher bezeichnen wir in der Beratungsarbeit individuelle negative Emotionen, die eine hohe Ansteckungsgefahr bergen und sich damit kollektiv verbreiten.

Typischerweise werden emotionale Viren an der Kaffeemaschine, in der Kantine oder an anderen Treffpunkten weitergetragen. Unentdeckt und unbehandelt, führen diese zu einer mentalen Verschmutzung der Organisation. Genau wie ein Computer, bei dem die Leistung sinkt, wenn er mit einem Virus infiziert ist, sinkt auch die Leistung des Unternehmens.

Die Deutschen sind undiszipliniert

Ein Beispiel: Im Anschluss an eine Klausurtagung gab der Vorstand eines deutsch-amerikanischen Unternehmens eine klare Vorgabe an die Organisation: „Kommuniziert mehr zwischen Deutschen und Amerikanern, verstärkt den Wissensaustausch, aber senkt gleichzeitig die Reisekosten!“. Dazu investierte das Unternehmen massiv in eine hochmoderne Videokonferenz-Technologie. Sprache: natürlich englisch, das ist ja die Konzernsprache.

Nach drei  Monaten endete der Versuch in einem Desaster: auf deutscher Seite stieg die Abwesenheitsrate während der Videokonferenzen bis auf 80 Prozent. Viele Projekte gerieten in Verzug, die amerikanischen Kollegen regten sich über die „undisziplinierten Deutschen“ auf und selbst von der Kundenseite kamen verstärkt Reklamationen.

Aller Druck des Vorstandes änderte nichts. Im Gegenteil: An Tagen, an denen Videokonferenzen stattfanden, konstatierte die Personalabteilung einen erheblichen Anstieg von Krankschreibungen unter den betroffenen Führungskräften. Wie wir sehen werden, ist dies ein typischer Fall von emotionalen Viren in der Kategorie „persönliche Ängste und Befürchtungen“. Hier die drei Schritte, um den Nährboden für die Viren zu identifizieren und Antiviren zu aktivieren:

Schritt 1: Akzeptieren Sie die „protektive Intelligenz“

Nach unserem Verständnis ist die „protektive Intelligenz“ ein defensives und instinktives Verhaltensmuster von Führungskräften und Mitarbeitern, um sich selber zu schützen. Sie setzen ihre Intelligenz und damit ihre Energie ein, um ihren Status zu sichern, Unsicherheit zu kaschieren und Fehler zu vermeiden. Für dieses natürliche menschliche Verhalten ist jedoch in der durchorganisierten Wirtschaftswelt kein Platz. Nach dem Motto: „Sie werden dafür bezahlt, also tun sie das gefälligst!“ werden Ängste und Unsicherheit abgebügelt oder Mitarbeiter als „Weicheier“ gebrandmarkt.

Das Problem: Je mehr dieses Verhalten bekämpft wird, desto mehr verbreitet es sich. Es ist das ideale Terrain für emotionale Viren. Diese ziehen die Energien der Mitarbeiter von der Arbeit an den Projektzielen ab und leiten sie auf Aktivitäten zum Zwecke des Selbstschutzes um. Anstatt Wissen zu teilen, werden Gerüchte verbreitet, anstatt Lösungen zu finden, werden nur noch Probleme diskutiert. In extremen Fällen kann es bis zum Boykott kommen.

Akzeptieren statt bekämpfen

Daher eine wichtige Faustregel: Je mehr das Management versucht, sich mit aller Kraft durchzusetzen, desto mehr nutzen die Mitarbeiter ihre Intelligenz um sich selbst zu schützen. Im angeführten Beispiel gab es offensichtlich einen impliziten Boykott der Videokonferenzen. Unsere erste Aufgabe war es, die Wahrnehmung der Problematik des produktivitäts- und rentabilitätsgetriebenen Vorstands zu verändern. Denn auch dieser war von emotionalen Viren durchsetzt, die sich aus der Angst nährten, die angekündigten Ziele nicht zu erreichen.
Nachdem wir die emotionalen Mechanismen transparent gemacht haben, räumte der Vorstand schließlich ein, dass sich hinter dem Fernbleiben der Mitarbeiter ein starkes Unwohlsein verbarg. Um deren Energien wieder in die richtige Bahn zu lenken, akzeptierte er zunächst die Tatsache, dass die Mitarbeiter sich im Modus der protektiven Intelligenz befanden. Es ging also nicht darum, dies zu bekämpfen, sondern die Gründe dafür nachzuvollziehen.

Schritt 2: Finden Sie den „emotionalen Engpass“

Für jeden emotionalen Virus gibt es einen Auslöser. Es kann sich neben der Angst vor Gesichtsverlust, des Status oder des Jobs auch um kulturelle Missverständnisse oder zerplatzte Illusionen handeln. Diese Auslöser zu finden, erlaubt es, den Ursprung der emotionalen Viren  ans Licht zu bringen. Auf unseren Rat hin beruft der Personalvorstand ein Meeting ein. Ziel: Einholen von Informationen über die Wahrnehmungen der Führungskräfte bezüglich der Effizienz der Videokonferenzen mit den amerikanischen Kollegen.

Die ersten Beiträge waren vorsichtig formuliert, diktiert von der protektiven Intelligenz: „unreife Technologie“, „unmögliche Zeiten aufgrund der Zeitverschiebung” und „Fehlen der menschlichen Wärme“. Plötzlich bricht es aus einem Teilnehmer heraus: „Ich beherrsche  die englische Sprache nicht gut genug, ich habe das Gefühl von den Amerikanern dominiert zu werden“. Der Damm war gebrochen.

Die Sprache als Barriere

Jeder Teilnehmer berichtete nun von seinem Frust, seinen Standpunkt nicht nur über Satellit, sondern auch noch in einer fremden Sprache verteidigen zu müssen. „Wir diskutieren immer über sensible Themen, wie die Standortverlagerung oder den zukünftigen Sitz der Forschungsabteilung. Wie soll man den Amerikanern, die schnell und obendrein mit einem unverständlichen Dialekt sprechen, die Stirn bieten? Am Anfang der Konferenz geht es ja noch, aber am Ende bin ich einfach nur noch ausgelaugt.“ „Ich habe das Gefühl, mich wie ein Achtjähriger auszudrücken. Durch den Sprachvorteil haben sie einfach die besseren Karten!“.

Stress durch Emailflut

Hier war die gemeinsame Basis, die den emotionalen Virus der Gruppe nährte. Der Ursprung des Problems, wir nennen es der „emotionale Engpass“, war ein tiefes Ungerechtigkeitsgefühl, da bei der Auseinandersetzung in sensiblen Themen nicht mit den gleichen Waffen gekämpft wurde.

Schritt 3: Fokus auf Schlüsselakteure und Businessziele

„Wir brauchen ein Teambuilding!“ sagte der Personalvorstand in der Nachbesprechung. Klassische Reaktion, klassisches Werkzeug. Das Problem ist, dass Teambuildings meist nur einen „Aspirin“-Effekt haben: die Teilnehmer kommen sich zwar näher und haben eine „gute Zeit“ miteinander. Die emotionalen Viren werden für einen kurzen Zeitraum „in Quarantäne“ gebracht, jedoch nicht an der Wurzel behandelt. Die klassischen Kommentare der Teilnehmer drei Monate später sind dann oft: „War zwar schön, aber verändert hat sich nichts!“ Mit entsprechenden Erwartungen fahren diese dann auch zu dem nächsten „Teambuilding-Workshop“, oder sind plötzlich verhindert, oder …

An der Sache orientieren

Deshalb empfehlen wir, das Wort „Teambuilding“ in solchen heiklen Situationen nicht zu benutzen. Vielmehr sollten Sie die Schlüsselakteure offiziell zu einem Workshop rund um die professionellen Thematiken einladen. Im vorliegenden Fall wurde ein zweitägiges Meeting in einem schönen, in der Natur gelegenen, Hotel organisiert, um strategische Ziele voranzutreiben. Achtzehn Schlüsselakteure von beiden Seiten des Atlantiks wurden eingeladen um die Probleme, die die Erreichung dieser Ziele verhindern, auf den Tisch zu bringen. Der Workshop begann mit einer Bestandsaufnahme der Wahrnehmungen beider Seiten. Es wurde offensichtlich, dass sich hinter den vielen sachbezogenen Gründen eine emotionale Gegenwehr versteckte.

Herzliches Lachen auf beiden Seiten des Atlantiks

Unter Einsatz verschiedener Instrumente, von denen ich einige in den nächsten Beiträgen vorstellen werde, schafften wir einen wertschätzenden Raum. Dieser ermöglichte es, dass Tabuthemen, wie das Sprachproblem, konstruktiv angesprochen werden konnten. Sowohl Deutsche wie Amerikaner entdeckten, zur Überraschung aller, viele gemeinsame Ängste und Befürchtungen.

Die Teilnehmer fanden eine gemeinsame Sicht der Dinge und erarbeiten in nur zwei Stunden konkrete Entscheidungsvorlagen für die zukünftige strategische und organisationale Ausrichtung. Im Gegensatz zu den Erwartungen des Vorstands war die Sprache von nun an kein Problem mehr und eine Reihe von Zielen wurde sogar schneller als erwartet erreicht. Die Videokonferenzen wurden, wie ursprünglich  geplant, ein alltägliches Kommunikationsmittel. Und siehe an: Nicht immer, aber immer öfter drang herzliches Lachen aus den Konferenzräumen auf beiden Seiten des Atlantiks.